Aufbruch aus der Fremdherrschaft

Konflikte als Chance auch für lange Entwicklungswege

Die Kraft aus Konflikten – auch für lange Entwicklungswege

Er ging mir unter die Haut, dieser Moment: Freude! Alle Menschen werden Brüder!
Ich spürte die Kraft dieser Worte und dieser Musik, als ob ich sie das erste Mal hören würde. Das berühmte Finale der 9. Symphonie von Beethoven mit Schillers Ode an die Freude.
Ich saß nicht im Publikum beim Eröffnungskonzert der neuen Elbphilharmonie in Hamburg, sondern mit Kopfhörern zuhause vor dem Bildschirm. Trotzdem erfüllte mich dieser Moment zutiefst. Und ich erinnerte mich, wie ich das erste Mal an diesem Ort war. Wie mir Carl seine Stadt Hamburg gezeigt hatte, im Sommer 2006. Die neu entstehende Hafencity. Auf dem alten Kaispeicher war das riesengroße Plakat mit dem Bild der Elbphilharmonie, die hier entstehen sollte. Wir sprachen über dieses verrückte, visionäre Projekt, und auch über die ungewisse, schwierige Situation von Carl.

 

Konflikte als Chance auch für lange Entwicklungswege_Elbphilharmonie
Bild: JohnSeb – Flickr, CC BY-SA 2.0

Carl hatte immer schon einen weiteren Horizont gehabt. Als Kind lebte er mit seinen Eltern in Frankreich, besuchte dann das Gymnasium in Süddeutschland. Als Diplomingenieur bewegte er sich einige Jahre in der Forschung und dissertierte. Er fand einen Job in einem großen Konzern, der ihm Sicherheit gab und interessante Betätigungsfelder eröffnete. Die große Manager-Karriere war nicht sein Ding, aber in verschiedenen Stabsfunktionen wurden ihm interessante Projekte anvertraut.

In den Monaten vor unserem Spaziergang in Hamburg hatte Carl bei mir ein Leadership-Training besucht. Als wir nun durch das alte Speicherviertel gingen und dann den neu entstehenden Stadtteil daneben erkundeten, erzählte mir Carl, dass auch in seinem Unternehmen größere Umwälzungen anstanden und dass sein Bereich möglicherweise in ein paar Jahren nicht mehr existieren oder verkauft werden würde.

Absicherung oder Risiko

Carl ahnte, dass es nicht leicht werden würde, einen ähnlich interessanten und gut dotierten Job zu finden, der ihm und seiner Familie eine vergleichbare Lebensqualität ermöglichte. In einem Coachinggespräch einige Zeit nach unserem Spaziergang schätzte er seine Situation so ein, dass er zwar viele Fähigkeiten hatte, nach denen möglicherweise auch Nachfrage bestand. Aber auch, dass er nirgends so richtig gut war, dass ihm fast überall etwas fehlte, um auf dem freien Arbeitsmarkt bestehen zu können.

Viele seiner Kollegen im Unternehmen waren in einer ähnlichen Situation. Sie liebäugelten zuweilen mit einer Veränderung, aber nach einem kurzen Ausstrecken der Fühler in das Neue zuckten sie wieder zurück und verlegten sich darauf, ihre Position im Unternehmen abzusichern.

Mich beeindruckte an Carl immer, wie er seine Erkenntnisse aus dem Leadership-Training und Coaching auf seine Art sofort in die Praxis transferieren und umsetzen konnte.

 

Ermutigung von jahrtausendealten Erzählungen

Ich hatte Carl von meiner Liebe zu den alten biblischen Geschichten erzählt, die ich schon als Kind gern gelesen hatte und die mich in verschiedenen Lebenssituationen immer wieder inspirierten. Die Geschichte von Abraham, der gegen alle Vernunft im hohen Alter etwas ganz Neues wagt und mit seiner Familie aufbricht in ein unbekanntes Land. Oder die faszinierende Geschichte von Moses, der sein Volk aus der Sklaverei ins gelobte Land führt. Und wie diese alten Geschichten auch innere Prozesse beschreiben. Dass die Kämpfe und Konflikte, die in diesen Geschichten beschrieben sind, auch Abbilder von inneren Kämpfen und Konflikten sind.

Im gemeinsamen Gespräch entdeckte Carl, wie diese Exodus-Geschichte von Moses, der Auszug aus der Fremdherrschaft und der lange Weg durch die Wüste ins gelobte Land, auch ein Symbol war für seine Situation: Carl hatte sich, ohne es zu bemerken, einem System unterworfen. Vordergründig dem System seines Konzerns, dem er scheinbar ausgeliefert war. Aber auch seinem eigenen mentalen System, dem fixen Bild, das er sich machte von sich selbst und seinem Leben. Und wie schwierig es war, sich davon wirklich zu befreien.

Wir sahen uns die Wegstrecke auf Google-Maps an, für die Moses und sein Volk laut Bibel 40 Jahre gebraucht hatten. Für den direkten Weg zu Fuß gab Google 150 Stunden an. Selbst wenn man viele Umwege und ein wesentlich geringeres Tempo mitbedachte wird klar, dass dieser lange Weg Symbol für einen anderen Prozess war.

 

Konflikt als Türöffner

Carl meinte: „Ein System mit seinen Strukturen gibt Sicherheit, kann uns aber auch versklaven, wenn wir uns diesen Strukturen unterwerfen. Äußere wie innere Strukturen können ja durchaus von Nutzen sein. Nur empfinden wir sie als Fremdherrschaft, wenn sie das Eigene, das Lebendige in Geiselhaft nehmen“.

Ich ergänzte: „Konflikte fordern uns heraus, gewohnte Denkmuster, fixe Bilder und Einstellungen zu verlassen und uns auf Neues, Unbekanntes einzulassen. Wir brauchen manchmal das Leid, den Schmerz, um diesen Aufbruch zu wagen dorthin, wo wir das gelobte Land erahnen.“
Konflikte fordern uns heraus, gewohnte Denkmuster, fixe Bilder und Einstellungen zu verlassen und uns auf Neues, Unbekanntes einzulassen.
Carl skizzierte einige Aspekte von dem, was für ihn „das gelobte Land“ sein könnte. Und kurz darauf schrieb er mir: „Im Außen hat sich noch nichts geändert. Aber ich habe mich entschieden, einen neuen Weg zu gehen.“

 

Aus Change wird Chance

Carl erkannte, dass es gerade die Umbruchsituation in seinem Unternehmen war, die ihm hervorragende Möglichkeiten bot, zu lernen, neue Erfahrungen zu machen und seine Fähigkeiten zu erweitern. Er knüpfte wieder Kontakte im akademischen Feld, hielt Vorträge und reichte Artikel ein. Ein bekannter Professor bot ihm an, gemeinsam mit ihm ein Buch zu schreiben, in das Carl die Sichtweise der Praxis einbringen sollte.

Die Entscheidung, einen neuen Weg zu gehen, ermöglichte es Carl, sich in seinem bisherigen Unternehmen über seine Rolle hinaus als eine Art interner Berater zu etablieren. Die Situation im Unternehmen wurde schwieriger, der Druck größer, die Spielräume geringer. Aber Carl hatte bereits so viel innere Freiheit, dass er einigermaßen entspannt die Entwicklung beobachten und immer wieder einen speziellen Beitrag leisten konnte, der in seinem Umfeld geschätzt wurde. Schließlich wurde sein Bereich abgespalten und an einen Konzern verkauft, der sich darauf spezialisiert hatte, mit effizienten Standards die Kostenführerschaft auf dem Markt zu behaupten. Carl kündigte. „Ich stehe mehr für Qualitätsführerschaft“, sagte er mir.

Bald darauf bekam er zwei interessante Angebote, die genau seinen Fähigkeiten entsprachen. Das Gehalt war etwas niedriger, aber Carl konnte noch einmal etwas Neues beginnen und aufbauen, das ganz ihm und seinen Fähigkeiten entsprach. „Der Weg war viel länger, als ich gedacht hatte. Über 10 Jahre lang machte ich immer wieder kleine Ausflüge in die Unsicherheit und folgte einem Weg, den ich nicht kannte. Ob ich wirklich im gelobten Land angekommen bin, weiß ich nicht. Aber vielleicht ist der Aufbruch dorthin entscheidender als das Ankommen“, resümierte Carl.

Konflikte als Chance: Ob ich wirklich im gelobten Land angekommen bin, weiß ich nicht. Aber vielleicht ist der Aufbruch dorthin entscheidender als das Ankommen.

 

Wolfgang Steger

Wolfgang Steger
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