Wie ein förderlicher Umgang mit Polaritäten uns neue Entwicklungsmöglichkeiten erschließt.

Stefan Bauer-Wolf hat im letzten Blog-Beitrag beschrieben, wie das Phänomen der Polarisierung zwar als Geschäftsmodell Aufmerksamkeit schafft, unsere Handlungsmöglichkeiten aber verengt und selten zu wirklichen Lösungen führt.
Ich möchte mit diesem Beitrag das Thema weiterführen, das aus meiner Sicht sowohl im Individuellen als auch im Gesellschaftlichen eine hohe Relevanz hat.
Eine erste These dazu: Wenn wir als Gesellschaft nicht fähig sind, Polaritäten zu integrieren, dann geben wir jenen Menschen die Macht, die ganz stark einseitige Pole repräsentieren. Die Herausforderung für uns als Gesellschaft ist es, die Kommunikation zwischen den Polaritäten offen zu halten und zu ermöglichen.
Eine zweite These: Die Herausforderung für das Individuum ist es, den anderen Pol zu integrieren.
Polaritäten sind ein grundlegendes Prinzip unseres Seins. Indem wir existieren, gibt es auch den anderen Pol, den der Nicht-Existenz. Unsere Emotionen, unser Denken sind diesem Prinzip unterworfen. Wir alle haben das Potenzial für beide Pole in uns: Das Potenzial für den Pol der Liebe und für den Pol des Hasses. Für das Gute und für das Böse. Für Wertschätzung und für Abwertung. Für Opfersein und für Tätersein. Für Leben und Tod.

Konflikte entstehen häufig aus der Ablehnung des anderen Pols. Schon auf einer frühen Stufe von Konflikteskalation entsteht ein Schwarz-Weiß-Denken. Das gibt zwar ein Stück Sicherheit und Stärke, verengt aber den Blick und schränkt uns in unseren Handlungsmöglichkeiten ein.
Ein für mich eindrucksvolles Beispiel ist das Festhalten an einer Opferrolle, sowohl im Individuellen als auch im Kollektiven. Der Gegenpol, selbst Täter zu sein, darf nicht existieren, selbst wenn die Taten – oder Untaten – für alle offensichtlich sind. Und so werden Konflikte über Jahre, Jahrzehnte, manchmal sogar Jahrhunderte fortgeschrieben.
In verschiedenen Kontexten der Psychologie, der Philosophie, der Spiritualität spielt die Integration von Polaritäten schon lange eine große Rolle. So z.B. bei Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert, dessen Denken um den „Zusammenfall der Gegensätze“ kreiste. Oder beim Konzept von „Yin und Yang“ in der chinesischen Tradition. Ebenso im Konzept von „Animus und Anima“ in der Tiefenpsychologie von C. G. Jung.
Die Integration von zwei entgegengesetzten Polen ermöglicht Freiheit, erweitert unsere Handlungsfähigkeit, führt zu nachhaltigen Lösungen.
Eine Integration von gegensätzlichen Polen bedeutet nicht Beliebigkeit („anything goes!“) Es macht aber einen Unterschied, ob ich für Werte einstehe, oder ob ich die mir nicht genehmen Werte und Haltungen ablehne und bekämpfe. Gerade wenn ich etwas total ablehne, es entrüstet und rigide bekämpfe, ist das häufig ein Hinweis darauf, dass das Potenzial dieser Polarität nicht frei ist. Dann ist in der Ablehnung Lebensenergie gebunden, dies schränkt meine Freiheit und meine Fähigkeit ein. Wenn ich mit einem Wert identifiziert bin und dabei den gegenteiligen Wert ausschließe, schwäche ich mich. Ich kann einen Wert richtig gut vertreten, wenn ich in mir das Potenzial der anderen Seite, des Gegenpols erschlossen habe. Wenn ich mich durchsetzen kann, kann ich auch zurückstecken, ohne dass es mich schwächt.

Eine Erscheinungsform von nicht-integrierter Polarität: Ich sehe jemand anderen als Feind. Ein Feind ist jemand, der in mir einen energetischen Stopp verursacht. Mein Lebensfluss ist gestoppt, im Innen und oft auch im Außen. Und verbunden damit ist die Unfähigkeit oder die starke Einschränkung, den inneren Fluss wieder in Gang zu bringen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie der energetische Stopp im Inneren wieder in Fluss gebracht werden kann. Dies entbindet uns aber häufig nicht von der Herausforderung, auch im Äußeren Handlungen zu setzen. Gleichzeitig ist das innere In-Fluss-Bringen die Voraussetzung für Handlungen, die nachhaltig Feindschaft beenden. Die FUTURE-Methode bietet viele Ansätze zur Integration. Ein Ansatz ist das Gewaltlosigkeitstraining im Rahmen des FUTURE Core Coachings, dessen Prinzipien ich hier vorstelle:
- Ich identifiziere das, was in mir den energetischen Stopp verursacht und konfrontiere das Abgelehnte: Das, was mich ohnmächtig, wütend, hilflos oder aggressiv macht, was mich erstarren lässt oder was mir meine Energie nimmt.
- Ich nehme die mentalen und emotionalen Neins dazu war, die ich in mir habe. Durch verschiedene Core-Coaching-Prozesse passiert Entspannung in Bezug auf diese Neins.
- Dann nütze ich die Fähigkeit und Kraft meines Herzens, um hinter der Energie des Abgelehnten den gelösten, ursprünglichen Fülle-Zustand zu identifizieren. Ich transformiere die Energie, die in mir den Stopp verursacht, in diesen gelösten Fülle-Zustand.
- Ich wappne mich also mit der transformierten Energiequalität dessen, was mich ohnmächtig, unfähig werden lässt. Ich aktiviere diese transformierte Energiequalität in mir.
- Damit bin ich wieder handlungsfähig, ich muss weder blind zurückschlagen noch klein beigeben. Ich bin fähig, auch im Außen förderliche Lösungen zu finden.
Vielleicht sind diese Prinzipien eine konkrete Umsetzung dessen, was Jesus in der Bergpredigt formuliert hat: „Liebe deine Feinde!“ Nicht als moralischer Appell, sondern als Fähigkeit und als Grundprinzip. Indem ich dem, was in mir den energetischen Stopp verursacht, Liebe und Zuwendung entgegenbringe, kann ich wieder Fluss herstellen. Meine eigene Reaktion von Nein ist letztlich ausschlaggebend dafür, ob es diesen Stopp gibt oder nicht. Mit dem Ja des Herzens werde ich fähig, das Feindliche in mir zu transformieren. Das ist auch das Grundprinzip, das nach meinem Verständnis in manchen fernöstlichen Kampftechniken steckt.
Auch ohne das Gewaltlosigkeitstraining des Core Coachings kann ich Polaritäten nützen, um mich zu entwickeln. Indem ich die nicht-integrierten Anteile zulasse, kann ich meine Handlungsfähigkeit und Power mehren. Das funktioniert nicht unter Zwang oder auf Knopfdruck. Die Zeit dafür muss „reif“ sein. Aus der Freiheit, aus meiner Fähigkeit und Entscheidung, mich von Herzen für den anderen Pol zu öffnen und ihn zu konfrontieren, entsteht Sog, Kooperation, Lösung, erhöhte Führungsfähigkeit. Dabei ist niemand perfekt. Die Integration von Polaritäten ist wohl ein lebenslanger Prozess, der mir hilft, aus meiner ureigenen Wesenskraft heraus zu agieren. Das zu sein und zu tun, wofür ich da bin, was meine Lebensaufgabe ist, was mein Beitrag in dieser Welt sein kann.
* Der Titel zu diesem Beitrag ist ein Aphorismus von Wolfgang E. Stabentheiner
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Über den Autor Wolfgang Steger:
Wolfgang Steger ist FUTURE®-Trainer, Master Certified Coach und gehört zu den ersten von der ICF zertifizierten Coaches im deutschen Sprachraum. Mehr zu seiner Expertise und darüber wie er Sie unterstützen kann, finden Sie in seinem verlinkten Profil.