Dableiben, wo Spannung ist: Wie Präsenz neue Lösungen ermöglicht


Kommt es nur mir so vor? Es ist viel Spannung zu spüren. Nicht nur in der Weltpolitik, sondern auch in Unternehmen, in Teams und im Privatleben vieler Menschen. Mir begegnen Situationen, in denen aus Spannungsfeldern harte Fronten werden: 


  • Starke Meinungsunterschiede
  • Wir-gegen-sie-Denken
  • Kein Raum für gemeinsame Lösungen

Ein Beispiel gefällig?


Neulich in einer sozialen Einrichtung: Zwei langjährige Mitarbeiter*innen waren in einen Konflikt geraten. Hintergrund waren unterschiedliche fachliche Zugänge, aber auch ein Mangel an Kommunikation: Beide fühlten sich vom anderen zurückgesetzt, nicht gesehen, nicht in ihren ganz besonderen Fähigkeiten wahrgenommen.



Nüchtern betrachtet gibt es in dieser Situation zumindest zwei Möglichkeiten:


  • Option A: Durchatmen. Mit beiden Konfliktparteien das Gespräch suchen. Unterstützung holen. Beide Positionen verstehen und hinterfragen. Das Gemeinsame suchen. Das Trennende erkennen. Den nächsten Schritt setzen.
  • Option B: Eine Entscheidung forcieren: Eine*r muss gehen.

Und was passierte real? Die Beteiligten rannten los in Richtung Option B. Die Stimmung war aufgeheizt, die Spannung unerträglich. Option B schien die einzig mögliche Entscheidung zu sein, um den Konflikt zu beenden. Die Buschtrommeln wirbelten. Schließlich sprach ein Mitarbeiter selbst seine Kündigung aus. Sein Umfeld schwankte zwischen Erleichterung und Schockstarre über den Verlust einer tragenden Säule.


Nicht die Option B ist in diesem Beispiel das Problem – sie mag sogar die bestmögliche Lösung sein. Problematisch ist aber, wie es zur Entscheidung für Option B kam: Kein Raum für Zuhören und Verstehen. Ein Gefühl von Enge und Ausweglosigkeit. Eskalation statt bewusster Entscheidung. Schade um die verlorene Chance.


Ein polarisierter Konflikt schränkt unsere Empathiefähigkeit und unsere Lösungsfähigkeit ein. Gefühlt muss man sich zwischen zwei Polen entscheiden – entweder hat Person X recht oder Person Y, entweder ist Lösung X richtig oder Lösung Y und so weiter.



Scheinbar gibt es keinerlei Raum vor, hinter oder zwischen dem ENTWEDER und dem ODER.


Wenn ich mich umsehe, begegnen mir ähnliche Situationen öfter als mir lieb ist:


  • im Familienstreit der Nachbarn
  • in der Unversöhnlichkeit der Facebook-Beiträge eines Corona-Maßnahmengegners
  • in Diskussionen zu Krieg und Frieden, Klimaschutz etc.

Polarisierung heißt der Zustand, der uns scheinbar zwingt, eine von nur zwei möglichen Positionen einzunehmen: Auf welcher Seite stehst du?


Polarisierung ist ein Geschäftsmodell: Die Kraft der Empörung schafft Aufmerksamkeit. Polarisierung fördert Empörung und Empörung fördert Polarisierung. In Algorithmen der sozialen Medien und in populistischer Politik wirkt Polarisierung als Erfolgsmodell.



Polarisierung steckte schon in uns, lange bevor es soziale Medien gab. Wenn wir unter Druck stehen. Wenn wir – wie wir’s bei FUTURE nennen – im „Zustand von Überlebenskampf“ stecken. Dann hilft uns unsere Empörung, Kraft zu schöpfen. Unsere Entscheidung, für oder gegen etwas oder jemanden zu sein, hilft uns, der Spannung eine Richtung zu geben und ein wenig Druck rauszulassen. Nur hilft das in den seltensten Fällen, wirklich eine Lösung zu finden.


Wie also umgehen mit diesen Spannungsfeldern?


Als ersten Schritt braucht es eine klare Entscheidung:


Lass ich mich ein auf dieses Spannungsfeld? In anderen Worten: Kann, darf und möchte ich zur Lösung beitragen?


  • Ist meine Antwort ein JA, dann gilt es zuzuhören, mit- und nachzuspüren, in Dialog zu gehen und beherzt dabei zu bleiben.
  • Ist meine Antwort ein NEIN, dann gilt es, auch wirklich loszulassen, eine gute Grenze zu finden, den eigenen Weg zu erkennen und weiterzugehen.

Für diese Entscheidung braucht es MICH hellwach und ganz da.


Warum ich das so betone? In einem Spannungsfeld haben auch ungeliebte Anteile meiner Persönlichkeit ihren Auftritt: Ein Teil von mir findet die Spannung anstrengend oder sogar unerträglich. Ein Teil von mir erinnert sich an alte, ungelöste Konflikte oder bekommt es mit der Angst zu tun. Ein Teil von mir will es allen recht machen. Ein Teil von mir will einfach nur weg.

Aus der äußeren Spannung wird so eine innere Anspannung, unbewusst und oftmals sogar unbemerkt.


Der Effekt? Ich verliere Präsenz – ich bin ja nun mit mir selbst beschäftigt. Ich weiche aus, ziehe mich zurück, gehe aus dem echten, empathischen Kontakt. Konkret zeigt sich das vielleicht in einer der folgenden Formen:


  • Körperlich/Emotional: Ich verschließe mein Herz. Nehme Bedürfnisse nicht wahr. Nehme Gefühle nicht wahr. Mein Nervensystem schaltet auf Angriff, Flucht oder Erstarrung.
  • Energetisch: Ich höre nicht mehr zu, um zu verstehen, sondern nur mehr, um einen Ausweg zu finden. Ich will nicht in diesem Spannungsfeld sein. Innerlich bin ich vielleicht schon weg.
  • In den eigenen Gedanken und Rollen: Als Rechthaber oder als Rechtgeber, der anderen das Leben leicht machen oder der selbst gefallen möchte. Als Beschuldiger, (Ver-)Urteilender und Abwertender. Als Gefangener in den Echokammern sozialer Medien.
  • In meiner Wahrnehmung meines Gegenübers: Nähere ich mich mit Neugier einem fühlenden, vielseitigen, herzlichen Menschen? Oder betrachte ich den Menschen nur mehr als das zweidimensionale Bild, das ich mir von ihm gemacht habe?


Die gute Nachricht: Wenn ich eine solche Reaktion in mir erkenne, kann ich mich neu entscheiden: Ich bleibe da.


Ich atme durch. Ich schaue liebevoll zu mir selbst, zu meinen Gefühlen und Reaktionen. Lasse sie einfach da sein, heiße sie willkommen. Lasse das Spannungsfeld einfach da sein, vielleicht heiße ich es sogar willkommen. Erst dann treffe ich die Entscheidung: Rein ins Spannungsfeld oder ganz hinaus. Im besten Fall macht es mein Da-Sein auch für andere möglich, in Bewegung zu kommen. Das Spannungsfeld wird zum Motor für Neues, Kreatives, Lebendiges. Doch in jedem Fall tut es gut, sich selbst-bewusst in Bewegung zu setzen. Die FUTURE-Methode unterstützt diesen Weg seit 35 Jahren.


Weiterführendes Angebot: Coaching-Kompetenz für Führungskräfte ab 10.11.2025 in Wien.


Über den Autor Stefan Bauer-Wolf:

Stefan Bauer-Wolf ist langjährige FUTURE®-Trainer und systemischer Organisationsberater. Mehr zu seiner Expertise und wie er Sie unterstützen kann, finden Sie in seinem verlinkten Profil.

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